Es ist ungenau, wenn die AfD immer wieder verharmlosend als rechtspopulistisch gekennzeichnet wird. Jetzt wird auch die Verlegenheitsformel als „in Teilen rechtsextrem“ verwendet. Aber zum klassischen Rechtsextremismus gehört demonstrative Gewaltbereitschaft und Gewaltakzeptanz. Die AfD beschränkt sich auf verbale Enthemmung und eine rabiate Form der Mobilisierung und Kommunikation. Das ist ohne Frage aggressiv und gesellschaftszersetzend, aber die AfD kommt in ihrer Selbstdarstellung in der Regel ohne die rechtsextreme Gewaltattitüde aus. Deshalb hat die Einordnung der Partei als rechtsextremistisch ihren Schrecken verloren, zumindest bei Teilen der Bevölkerung. Indem man die AfD als „rechtsextrem“ bezeichnet, erreicht man bei dieser Klientel nicht ihre Stigmatisierung, sondern das Gegenteil, eine Entstigmatisierung des Rechtsextremismus und eine Solidarisierung mit der AfD. Die Normalisierung erleichtert der AfD das angestrebte Eindringen in Institutionen. […]
Auf der sozialen Ebene kann einem vieles abhandenkommen – der Arbeitsplatz, der Status, die soziale Sicherheit oder die Familie. Aber das Deutschsein kann einem niemand nehmen. Desto brüchiger die soziale Sicherheit wird, desto wichtiger werden für Teile der Bevölkerung solche Identitätsanker. Die entsicherten Jahrzehnte des Neoliberalismus mit der schleichenden Demontage des Sozialstaates waren eine entscheidende Voraussetzung für die Anziehungskraft des autoritären Nationalradikalismus. […]
Wer sich anerkannt fühlt, muss sich zumindest nicht am Identitätsanker des autoritären Nationalradikalismus aufrichten. Dabei geht es nicht nur um ökonomische Anerkennungs- und Kontrollverluste. Auch wenn man seine Umgebung nicht mehr versteht und sich von den unterschiedlichen Lebensentwürfen in einer pluralistischen Gesellschaft überfordert fühlt, kann das als Kontrollverlust erlebt werden. Das ist eingebettet in die Erfahrung gesellschaftlicher Krisenentwicklung. Krisen sind erstens dadurch gekennzeichnet, dass vielfach die herkömmlichen Instrumente der Politik nicht mehr schnell funktionieren, und zweitens dadurch, dass die Zustände vor den Krisen nicht wieder herstellbar sind. Daraus ergeben sich für Teile der Bevölkerung erhebliche Kontrollverluste über ihre Biografien. Menschen mit Kontrollverlusten sind besonders anfällig für Verschwörungstheorien. Das Versprechen der AfD, „wir stellen die Kontrolle wieder her“, „wir holen uns unser Land zurück“, reagiert genau auf diese Kontrollverluste. (Paid)
Wilhelm Heitmeyer, sueddeutsche.de, 09.07.2023 (online)