Mutmaßlich jeder, heißt das, besitzt und schätzt Kunst von Menschen, mit deren sonstigen Meinungen und Handeln er nicht zwingend auch konform geht. Wie soll das Recht da robust sagen, ab welchem Punkt Meinungsäußerungen, Kunstproduktion oder Diskurs nicht mehr möglich sein sollen? Wer sollte verlässlich und verbindlich vorab klären, was stimmt und was nicht? Wer sollte bestimmen, wer sich durch vergangene Äußerungen so disqualifiziert hat, dass eine künftige Beteiligung am Zeitgespräch oder am geförderten Kulturleben nicht mehr zulässig sein soll? Und wer glaubt ernsthaft, dass gerade künstlerische Positionen und Werke so eindeutig sind, dass sie sich entsprechend kategorisieren ließen? Und dann noch durch Verfassungsschützer, die ja nicht Kunstkritik betreiben, sondern Angriffe auf die staatliche Ordnung abwehren sollen.
Da gibt es im Moment genug zu tun, weil nicht wenige Gruppierungen aktiv daran arbeiten, die Idee einer freien und offenen Gesellschaft zu unterwandern. In solch einer Situation ausgerechnet jene ins Visier zu nehmen, deren Arbeit zwingend auf genau diese Freiheit und Offenheit angewiesen ist, ist schon eine wahrlich abenteuerliche Idee. Schließlich ist es doch gerade die freie Kunst, die mit ihren Arbeiten eine Gesellschaft immer wieder so sehr irritieren kann, dass sie sich darüber verständigen muss, wo sie welche Grenzen ziehen will.
„Kunst muss … zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf“, sagte Heinrich Böll vor fast 60 Jahren in seiner Wuppertaler Rede zur Freiheit der Kunst. Eine offene Gesellschaft muss aushalten, dass dabei Positionen bezogen werden, die grundfalsch oder gar gegen den gesellschaftlichen Konsens gerichtet sind. Ihnen begegnen wir nicht mit Verboten oder dem Verfassungsschutz, sondern mit beherztem öffentlichem Widerspruch und einer respektvollen und intensiven Debatte. Darin zeigt sich übrigens auch am besten unser Vertrauen in die Kraft der Demokratie. Denn wer sich fragt, was wohl unter anderen politischen Vorzeichen als Nächstes aus dem Bereich des Erträglichen und damit rechtlich Zulässigen herausdefiniert würde, der muss nur einen Blick auf die illiberalen Demokratien unserer Tage werfen.
Carsten Brosda, sueddeutsche.de, 18.06.2024 (online)