Wer etwas älter ist und aus Westdeutschland stammt, mag sich an die Siebzigerjahre erinnern, an die Zeit der Verbrechen der RAF. In dieser „bleiernen Zeit“ war das Klima der Anfeindungen zwischen, sehr simpel gesagt, Rechten und Linken manchmal so übel, dass nicht nur Alarmisten um das Grundgerüst der Republik fürchteten. Auch wenn es damals noch keine sogenannten sozialen Medien gab, gab es in Zeitungen, Flugblättern, Debatten den Streit über manchmal ähnliche Begriffe wie heute. Bekenntnisse, wo man „wirklich“ steht, wurden verlangt oder bezweifelt. Die Beleidigungsbereitschaft war hoch, die Möglichkeit, diese Beleidigungen öffentlich zu machen, war allerdings – mangels Twitter und anderer Plattformen – deutlich geringer als heute.
Zwar gab es auch später große politische Auseinandersetzungen in Deutschland, bei denen sich Emotion und Rationalität nicht immer die Waage hielten. In jüngerer Zeit aber nimmt die Frequenz der in Deutschland als Freund-Feind-Diskurse geführten innergesellschaftlichen Konflikte zu: zuerst die Migrationspolitik, dann Corona – und jetzt die Ukraine.
Der Konsensbereich in weiten Teilen der Bevölkerung ist eigentlich groß: Russland ist der Angreifer und Putin ist ein Verbrecher, die Ukraine benötigt sehr viel finanzielle und militärische Hilfe, Deutschland muss sich um ukrainische Flüchtlinge kümmern, die Ukraine darf den Krieg nicht verlieren, aber der Krieg darf auch nicht zum Nato-Russland-Krieg eskalieren. Ein innergesellschaftlicher Prozess gegenseitiger Anfeindungen, lautstarker Rechthaberei und wechselseitiger Beleidigungen gefährdet auch diesen Konsens – und damit die nötigen politischen Schritte. Nichts gegen Debatte, gegen Diskussionen und auch nichts gegen Streit. Aber das seit der Flüchtlingsdebatte im Jahre 2015 permanente Beleidigen, das Herabwürdigen, die Identifizierung des Meinungsgegners als Feind, auch die Übertragung des Schwarz-Weiß-Denkens vom Schützengraben in die Talkshow, all diese Rhetorik untergräbt die Kultur dieses Landes.
Kurt Kister, sueddeutsche.de, 18.2.2023 (online)