„Den Ostdeutschen“ Russlandverklärung zu unterstellen, gar „Russlandverstehertum“, ist ein westdeutscher Reflex der aus der nachhaltigen Verunsicherung darüber entsteht, dass in Ostdeutschland das Wissen über die Sowjetunion, über Russland, dessen Sprache, Literatur und Kino tatsächlich – etwas – weiter ausgeprägt ist als im Westen. Auch weiß man allgemein im Osten mehr über den Westen als umgekehrt, weil es nach 1990 lebensnotwendig war. Noch 32 Jahre nach der Wiedervereinigung sind Beharrungsprivilegien und Lerndruck zwischen Ost und West unterschiedlich verteilt. Wenn dann geschichtlich gewachsene Sonderkompetenzen als „Russlandverstehertum“ denunziert werden, zeigt das nur, dass da Tonangeber in ihrem Beharrungsprivileg verunsichert sind. …
Während die Ostdeutschen trotz der verordneten Nähe zur Sowjetunion über 40 Jahre hinweg keine mehrheitliche Zuneigung zu Russland entwickelt haben, verharren die Westdeutschen in einer deutlichen Ergebenheit gegenüber Amerika. Vielleicht haben die Ostdeutschen durch den Zwiespalt von verordneter Liebe und erfahrener Fremdheit die Lektion Henry Kissingers früher gelernt, dass Nationen keine dauerhaften Freunde oder Feinde, sondern nur Interessen haben. Vielleicht steht den Westdeutschen die Verinnerlichung dieser Lektion erst noch bevor.
Jan Brachmann, faz.net, 24.10.2022 (online)