Gerade geht unter meinem Balkon eine junge Mutter mit ihrem vielleicht fünfjährigen Sohn vorüber. Er trottet ein paar Meter hinter ihr her, hat die Kapuze seines Sweatshirts hochgezogen und starrt auf sein Smartphone. So sehen heutige Sonntagspaziergänge aus. Trostlos. Wer hat ihm das Gerät gegeben? Und warum? Ist das Gedankenlosigkeit, geschieht es, um Konflikte zu vermeiden? Sehen Eltern darin eine Art von Frühförderung und Einführung in die digitale Welt?
Manchmal denke ich, dass wir es mit einer zeitgenössischen Form der Kindsaussetzung zu tun haben. Man hält sich die Kinder vom Hals und stattet sie gleichzeitig mit einer elektronischen Fußfessel aus, die sie unter Kontrolle hält. Allerdings werden wir als Folge der Praktiken der digitalen Kindsaussetzung und einer allgemeinen erzieherischen Verwahrlosung in Zukunft immer öfter damit rechnen müssen, dass ein stiller, unauffälliger Junge eines Tages sein Smartphone gegen eine im Darknet erworbene Pistole vertauscht, einen schwarzen Kampfanzug anzieht und sich vor aller Öffentlichkeit rächt für seine Einsamkeit und Nichtbeachtung.
Götz Eisenberg, Telepolis, 30.07.2024 (online)