In seinem […] Buch „Ungleich vereint“ führt der Soziologe Steffen Mau den Begriff der „Ossifikation“ nun als Gedankenspielerei neu ins diskursive Feld. Die zentrale These lautet, dass es in entscheidenden Kategorien von Wirtschaft über Politik bis hin zu Mentalität und Identität „bleibende Unterschiede“ zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands geben werde. Mau fragt und erläutert, worauf diese Unterschiede zurückzuführen sind – und was aus der These folgt, hat man sie einmal als gültig verinnerlicht. Der Begriff „Ossifikation“ scheint dem Soziologen dafür geeignet, weil er „einigermaßen deutungsoffen“ sei, „denn er bezeichnet sowohl (die unter Umständen pathologische) Verknöcherung wie auch die Regeneration nach einem Bruch, nämlich durch die Bildung von Narbengewebe“. […]
Nun stellt Steffen Mau in „Ungleich vereint“ fest, dass sich „jenseits ungleicher ökonomischer Bedingungen“ ein „eigenständiger Kultur- und Deutungsraum Ostdeutschland“ herausgebildet hat. Die Frakturen würden gewissermaßen aushärten und nur wer das anerkenne, könne sie politisch adressieren. In seiner Ursachenforschung durchwandert Mau noch einmal die Jahre der Wiedervereinigung. […]
Ein Gewinn der Lektüre seines Buches kann für alle darin liegen, jene das geeinte Land nach wie vor durchziehende „Phantomgrenze“ nicht nur immer wieder neu zu bestaunen wie zuletzt Anfang der Woche beim allgemeinen und öffentlichen Wundenlecken nach der Europawahl. „Wie beim Tiefdruckverfahren tritt die Silhouette der DDR“ weiterhin „überraschend deutlich hervor“, schreibt Mau – und wem diese Feststellung allein nicht genügt, sondern wer die Gründe dafür verstehen möchte, der bekommt in „Ungleich vereint“ auf knapp 150 Seiten signifikant etwas geboten.
Cornelius Pollmer, sueddeutsche.de, 13.06.2024 (online)