Es gibt zwar klar das Bild, dass die schweigende Mehrheit von einer Minderheit regiert werde. Aber viele AfD-Wähler sehen sich nicht als Teil der stummen Mehrheit. Sie sehen sich insgeheim als eine Art wissende Minderheit, als Elite. Als eine Gruppe von vermeintlich Auserwählten, die ganz allein den Durchblick haben, dass hier bald der Untergang der Gesellschaft bevorsteht und wer daran Schuld habe. Bestätigt sehen sie sich vor allem dadurch, dass sie sich ständig von der Mehrheit ihrer politischen Gegner angegriffen fühlen.
Sie sehen sich als Opfer von Ausgrenzungen. Und das bestärkt sie in ihrer Sicht, eine Avantgarde zu sein, die die Zeichen der Zeit erkannt hat und das Ruder an sich reißen muss. Sie glauben: Nun muss die notwendige politische Tat vollbracht werden. Denn aus ihrer Sicht funktionieren die eingeübten Routinen des sozialen Ausgleichs und der politischen Konfliktbewältigung nicht mehr. Aus ihrer Sicht stecken wir fest, und die Demokratie ist nicht mehr in der Lage, die vielen Krisen zu bewältigen. […]
Ein Grund dafür ist, dass auch diese Menschen über viele Jahre die neoliberale Entkernung des Staates miterlebt haben, den systematischen Rückbau: Überall gibt es immer weniger Geld, immer weniger Personal. Sie haben oft gar keine positive Erfahrung damit gesammelt, dass ein demokratisches Gemeinwesen in einer Krise funktioniert, dass der Staat bestimmte öffentliche Ressourcen mobilisiert, um eine bessere Welt für alle zu erzeugen. Eine solche positive Erfahrung ist für viele extrem abhandengekommen, und damit auch ein positives Zukunftsbild.
Phillip Rhein, berliner-zeitung.de, 10.03.2024 (online, Paid)