Mein grundsätzliches Selbstverständnis ist das folgende: Menschen sind selbstinterpretierende Wesen. Das bedeutet, dass das, was wir sind, wer wir sind, wo wir hinwollen und in welcher Gesellschaft wir leben, immer auch davon abhängt, wie wir uns verstehen. Unsere Wirklichkeit wird maßgeblich von unserem Selbstverständnis geprägt. Wer wir sind, hängt davon ab, wie wir uns und die Welt deuten. In unserem Zeitalter sind Medien und Wissenschaften, insbesondere die Sozialwissenschaften, ein zentraler Ort der Selbstverständigung. Als Soziologe versuche ich, Selbstdeutungen zu entwickeln. Ich behaupte daher gerade nicht, unbestreitbares Wissen zu produzieren. In diesem Interview trete ich nicht als derjenige auf, der alles weiß, sondern als jemand, der versucht, den ihm bestmöglichen Vorschlag zu machen, wie wir uns in dieser Situation im frühen 21. Jahrhundert, in der ein Dritter Weltkrieg droht, selbst verstehen können. Sich selbst zu verstehen heißt: Wie sind wir hierhin geraten? Was ist unsere Lage, und wie können wir wieder daraus herauskommen? Und da sehe ich eine Aufgabe für die Geistes- und Sozialwissenschaften: Wir müssen Vorschläge für diese Selbstinterpretation machen, aber nicht mit dem Anspruch, es besser zu wissen, sondern um in den Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern zu treten.
Hartmut Rosa, berliner-zeitung.de, 13.07.2025 (online)