Die Wählerwanderungen sind ein prägnanter Beleg dafür, wie sich einige Meinungsforschungsinstitute (in diesem Fall Infratest dimap) den Bedürfnissen ihrer Auftraggeber beugen, obwohl die Daten, die den Berechnungen zugrunde liegen, fragwürdig sind. So waren die Panel-Teilnehmer beim MainzerMedienDisput 2017 einhellig der Ansicht, dass die gängigen Wählerstromanalysen aufgrund einer Reihe methodischer Probleme „auf Sand gebaut“ sind. „Wählerwanderungen sind gaga“ lautet der Ausspruch eines Teilnehmers, welcher die Einschätzung zugespitzt auf den Punkt brachte.
Was macht den Reiz der Wanderkarten aus? Der Erklärungsbedarf, warum eine Wahl so oder so ausgegangen ist, ist kurz nach der Verkündung der Ergebnistendenzen enorm hoch. Da sind die einfachen Bilder der Wählerströme willkommen. ….
Die Kritik an diesem Analysetool setzt bei den verwendeten Daten an. Sie stammen aus den Exit-Polls: In zufällig ausgewählten Stimmbezirken werden zufällig ausgewählte Wählerinnen und Wähler beim Verlassen des Wahllokals nach ihrem Wahlverhalten jetzt und bei der letzten Wahl befragt. Insbesondere die Recall-Frage („Welcher Partei haben Sie bei der letzten Wahl Ihre Stimme gegeben?“) erscheint problematisch, denn es ist davon auszugehen, dass sich ein Teil der Befragten einfach nicht mehr erinnern kann, wo er bei der letzten Wahl sein Kreuz gemacht hat. ….
Um das frühere Wahlverhalten jetziger Nichtwähler berücksichtigen zu können, wird kurz vor der Wahl eine Stichprobe aus der Gruppe bekennender Nichtwähler dazu befragt. Auch hierbei droht Verwechselungsgefahr, wenn man bedenkt, dass neben Bundestagswahlen, auch Europa-, Landtags- und Kommunalwahlen zu erinnern sind.
Außerdem wird das frühere Wahlverhalten nicht mehr Stimmberechtigter (zum Beispiel Verstorbene, Abgewanderte) kalkuliert und verrechnet. Dabei müssen Gewichtungen und Korrekturen vorgenommen werden.
All das deutet darauf hin, dass das gesamte Verfahren fehleranfällig ist. Weil die Methodenprobleme jedoch unter dem Tisch bleiben und sich zumindest die Demoskopen von Infratest dimap gegenüber ihrem Kunden ARD verpflichtet fühlen, werden die bunten Flussdiagramme bis heute nach Wahlen angefertigt und publiziert. Auch die Parteien nutzen die Wählerwanderungen gerne als Grundlage für ihre Wahlanalysen und ziehen daraus gegebenenfalls strategische Konsequenzen für die Zukunft, ohne zu realisieren, auf welch unsicherem Terrain sie sich damit bewegen. ….
Grundsätzlich fällt im Zusammenhang mit den Nach-Wahlanalysen der Parteien auf, dass hier zum großen Teil dieselben Institute mitwirken, die auch die Medien beliefern. Es liegt nahe, zu vermuten, dass dadurch der kritische Blick auf die Daten getrübt ist.
Häufig fehlt auch das Korrektiv in den Parteizentralen, weil die notwendige fachlich-methodische Kompetenz eher ab- als aufgebaut wurde. Führende Politiker sind leicht empfänglich für einfache Erklärungen der Wahlergebnisse. Wählerwanderungen sind da eine beliebte Quelle. Und wenn sich einmal eine einfache Erklärung durchgesetzt hat, ist sie nur schwer wieder aus der Welt zu schaffen.
Thomas Wind: Demoskopie, Medien und Politik. Ein Schulterschluss mit Risiken und Nebenwirkungen. OBS-Arbeitspapier 34. 19.10.2018 (online)