Neutralität und davon abgeleitet Ausgewogenheit, Unparteilichkeit und Objektivität als fundamentale journalistische Normen sind an sich durchaus erstrebenswerte Ziele. So legen wir in Demokratien Wert darauf, möglichst alle Stimmen im gesellschaftlichen Diskurs angemessen zu Wort kommen zu lassen. Ein Bekenntnis zu Ausgewogenheit und Unparteilichkeit kann dieser demokratischen Meinungsvielfalt zuträglich sein. Darüber hinaus sind Medien nach wie vor ein für die Gesellschaft bedeutendes Fenster in die Welt. Im Sinne der demokratischen Meinungsbildung ist es entsprechend wichtig, dass wir über Medien erfahren, wie die Welt aussieht, und nicht bloss, wie sie gemäss Journalist*innen aussehen sollte.
Erstens beisst sich ein striktes Verständnis von Neutralität mit der journalistischen Kritik- und Kontrollfunktion. Wenn Medien nur neutral sind und bereits vorhandene Informationen abbilden, können sie nicht eigenständig kritisch recherchieren, Missstände aufdecken und die Erkenntnisse in die öffentliche Debatte einspeisen. Das würde in der Konsequenz bedeuten, dass beispielsweise Investigativjournalismus nicht mehr betrieben werden darf, weil die Triebfeder hinter jeder investigativen Recherche eine normativ-wertende Haltung ist.
Marko Ković, medienwoche.ch, 12.10.2021 (online)