Journalisten und deren Organisationen reagieren in der Regel sehr empfindlich und reflexartig, wenn sie ihren Bewegungsspielraum durch staatliche Massnahmen bedroht sehen. Dann kommt es über weltanschauliche Grenzen hinweg schnell zu Schulterschlüssen […]
Wikileaks war zudem eine Bedrohung für das Geschäftsmodell der etablierten Medienhäuser. Ein Branchenfremder erschloss ein neues Gebiet, das erfolgversprechend war: den computergestützten Zugriff und die Auswertung von Unmengen von geheimen Papieren, welche Chancen auf exklusive Publikationen eröffneten. Wer da mitzieht, kann nicht unbedingt auf ökonomischen Erfolg hoffen, aber immerhin sein Renommee stärken. Die Medienhäuser haben seither ihre Investitionen in Rechercheabteilungen verstärkt und dafür geschaut, dass sie den Handel mit Geheimpapieren möglichst allein oder mit wenigen internationalen Partnern kontrollieren können. «Leaks» wurden zu einem neuen journalistischen Genre. Wikileaks gab den Anstoss dazu. Aber Assange geriet dadurch auch in die Rolle des lästigen Konkurrenten. […]
Mit seinem revolutionären Ansatz steht er im Widerspruch zum klassischen westlichen Journalismus, der zwar die Mächtigen öffentlich zur Rechenschaft ziehen will, dabei aber keinen Umsturz anstrebt, sondern vielmehr Reformen zur Verbesserung von politischen oder gesellschaftlichen Verhältnissen im Blick hat. Die Tätigkeit eines Journalisten unterscheidet sich insofern grundsätzlich von jener des Wikileaks-Aktivisten. Ein Journalist selektiert, analysiert und bewertet Informationen, ohne dabei die ihm zur Verfügung stehenden Dokumente wahllos publik zu machen. In diesem Sinn gehört Assange nicht zum journalistischen Kosmos. [… ]
Dem Prinzip der totalen Transparenz wohnt etwas Totalitäres inne. Auch ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen würde daran zugrunde gehen. Entsprechend schaffte sich Assange mit seinem digitalen Anarchismus weitherum Feinde.
Wer mächtige Akteure angreift, sollte Ausschau halten nach starken Kräften, die ihm im Notfall beistehen.
Rainer Stadtler, infosperber, 27.6.2022 (online)