Zitiert: Warum sich Deutschland mit dem „Sommermärchen“ selbst belügt

Nichts gegen gute Stimmung und Fußballbegeisterung. Doch die „Sommermärchen“-Besoffenheit in den Medien steht beispielhaft für die falsche Geschichte, die sich dieses Land über sich selbst erzählt.  […]

Die naheliegende Frage, ob der öffentlich-rechtliche Rundfunk für eine Produktion erfunden worden ist, die man von einem DFB-Promo-Video kaum unterscheiden kann, ließ sich dem verantwortlichen BR-Redakteur Christoph Netzel (mit Andreas Egertz und Astrid Harms-Limmer) leider ebenso wenig stellen wie Regisseur und Produzent Nick Golüke (Regie mit Julia und Robert Grantner). Beide standen auf Anfrage nicht für eine Stellungnahme zur Verfügung.

So kann man nicht aus erster Hand erfahren, wieso Bastian Schweinsteiger unbedingt bei Wintersport und Hüttenvesper in Südtirol getroffen werden musste (was aus der „Reise durch Deutschland“, die der Film darstellen soll, nebenher ein Land macht, das so groß nicht mal unter Hitler war). Oder wieso 75 Minuten Sendezeit auf eine „Kann“-Frage verwendet werden, die am Ende, wer hätte das gedacht, unbeantwortet bleibt – was es schwer macht, einen Begriff wie „Erkenntnisinteresse“ überhaupt in Verbindung mit diesem Film zu bringen.

Denn diese Doku will gar nichts herausfinden, sondern nur etwas zementieren: die Legende vom „Sommermärchen“. Jene Legende also, die schon 2006 bei der Fußball-Weltmeisterschaft der Männer im eigenen Land so wirkte wie ein sich selbst erfüllendes Label, das sich eine teuer bezahlte Werbeagentur ausgedacht hatte, um das Premium-Produkt Profifußball zu vermarkten (für dessen Übertragungsrechte die Öffentlich-Rechtlichen viel Geld an problematische Männerbünde wie FIFA oder UEFA zahlen). […]

In der anderen, der kritischeren ARD-Fußball-Doku „Einigkeit und Recht und Vielfalt“ über Rassismus und Identifikation, stellt Autor Philipp Awounou etwa fest: „Eine Langzeitstudie zweier Universitäten findet keine positiven Effekte des sogenannten Partypatriotismus. Im Gegenteil, laut den Forschern seien Deutsche nach der WM (2006) sogar leicht nationalistischer und fremdenfeindlicher eingestellt als vorher. Dieser Part wird selten miterzählt, wenn es um den Mythos Sommermärchen geht.“

Das heißt offenbar aber noch lange nicht, dass Esther Sedlaczek in ihrem Film nicht doch von diesem Mythos schwärmen könnte. Wo das Fremdbild zu erschreckend ist, wird sich eben am herbei gewünschten Selbstbild gewärmt.

Matthias Dell, uebermedien, 19.06.2024 (online, Paid)

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