Also schaute ich auf die frühen 90er-Jahre, als Berlin noch so schön unaufgeräumt war, und stieß auf die Sendungsmitschnitte meiner „Frühkritiken“, die ich für Radio Brandenburg live geboten hatte, als rasender Reporter in Sachen Gegenwartskunst sozusagen. […] Meine Erinnerung bindet sich an viele Erfahrungsräume, die es heute nicht mehr gibt. Schon damals war mir klar, dass ich zuweilen weit außerhalb des Konsensrahmens lag, insbesondere was Kunst mit ostdeutscher Wurzel betraf. Ich hab mich für die vergessenen Künstlerinnen und Künstler der nicht staatstragenden Kultur starkgemacht, auch für die Provokateure, die den politischen Galopp der „Wende“-Animateure infrage gestellt haben. Was wir heute an Sprachlosigkeit zwischen Ost und West erleben, nahm zu Beginn der 90er-Jahre seinen Anfang in den massenhaften Zurückweisungen, die Menschen nicht nur im Kulturbereich erfahren haben.
Christoph Tannert, berliner-zeitung.de, 15.10.2023 (online)