Das Timing der Kampagne ist genial, die Publikation ein fast perfekt orchestrierter Marketing-Coup. Das Buch erscheint pünktlich zur Leipziger Buchmesse. Nur eine Woche zuvor veröffentlicht „Die Zeit“ die umstrittenen WhatsApp-Ergüsse von Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner. Das höchst erfolgreiche Wochenblatt gehört zum Holtzbrinck-Konzern – ebenso wie der Verlag Kiepenheuer & Witsch. K&W, der jetzt mit einer Erstauflage von 160.000 Exemplaren den vermeintlichen „Schlüsselroman“ zu Springer, Reichelt und MeToo auf den Markt wirft.
Seit Ende 2022 wurde die intrigenlüsterne Öffentlichkeit gezielt angefüttert, mit Häppchen über die unmittelbar bevorstehende Publikation. Flankiert von einer Vorberichterstattung, die die Erregungskurve ausschlagen und die rezensionswilligen Feuilletonisten mit den Hufen scharren lässt. Ein Kalkül, das nicht schiefgehen kann. Sofort nach Erscheinen springt das Werk auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Eine Woche später (27.4.) liegt die Auflage bereits bei 280.000 Exemplaren. […]
Über all diesen Intrigen, Widersprüchen und Voyeurismen gerät der eigentliche Skandal in den Hintergrund: der alltägliche Sexismus und Machtmissbrauch in bundesdeutschen Medien, sexualisierte Gewalt und MeToo in mehr als einer Redaktion. Zu Recht verweisen Feminist*innen auf die vor allem im Feuilleton großer Redaktionen unkritische Rezeption des Bestsellers von Stuckrad-Barre. Sexualisierte Gewalt gegen Frauen als Ratespiel in Buchformat?
Günter Herkel, verdi.de, 04.05.2023 (online)