Nun: allerschärfste Verurteilung des russischen Angriffs, aber keine Verhängung eines Gasembargos. Den Krieg in Europa ächten, aber Kriege im Rest der Welt geschehen lassen. Auf die russische Lügenpropaganda verweisen, aber über den auf Lügen aufgebauten Irakkrieg schweigen. Putins Gas dämonisieren, aber dafür in den Emiraten antichambrieren. Einem europäischen Wertekanon huldigen, der aber auf dem Mittelmeer und bei den afrikanischen „Migrationspartnerschaften“ ignoriert wird. Und das alles gerahmt durch einen übermächtigen Bekenntniszwang, wie sehr man sich doch in der Person Putins, Russlands Ansinnen oder gleich auch der russischen Volksseele getäuscht habe. Identitätspolitik, eben noch die Geißel der Demokratie, hier ist sie plötzlich Pflicht: Wir sind die Guten! …
Überhaupt, nicht nur die alte Dichotomie von Gut und Böse ist so lebendig wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Auch die althergebrachte Männlichkeit, deren wahlweise Krise oder Toxizität zuletzt nicht allein in den berühmt-berüchtigten Gender Studies Thema war, hat binnen kürzester Zeit wieder Oberwasser bekommen. Über Nacht ein hundertmilliardenschweres Sondervermögen, ‚abgestimmt‘ nur zwischen zwei Männern: So geht Politik heute – wie ehedem eben.
Stephen Lessenich, sueddeutsche.de, 7.4.2022 (online)