Zitiert: Wikipedia als Vorbild für ARD und ZDF?

Dafür möchte ich zum Abschluss meines Vortrags den Blick auf eine weitere, bislang unerwähnte Digitalplattform legen. Eine Plattform, die in der medialen Debatte über digitale Öffentlichkeit kaum je Erwähnung findet, obwohl ihre Bedeutung für unser Weltwissen und damit unser Weltverstehen kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Ich spreche von der freien Online-Enzyklopädie Wikipedia. Nicht nur ist sie die einzige nicht-kommerzielle unter den 100 meistbesuchten Webseiten der Welt. Auch die mit Abstand meistbesuchte Webseite, das wichtigste Tor ins Weltwissen, Google, featured sie prominent in Suchergebnissen. Und neue, gehypte KI-Anwendungen werden ganz wesentlich mit Wikipedia-Daten trainiert.

Wenn wir uns anschauen, wie es um die Glaubwürdigkeit und Robustheit des Wikipedia-Wissens bestellt ist, dann zeigt sich, dass dieses gerade in dynamischen und politisch kontroversen Themenfeldern – von Covid über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine bis hin zur Klimakrise – ausgesprochen akkurate und aktuelle Informationen liefert. Das ist, mit Verlaub, ein Treppenwitz der Internetgeschichte. In den ersten zehn Jahren ihrer Geschichte, war die meistgestellte Frage zur Wikipedia: “Kann man das glauben, was da drinnen steht? Da kann ja jeder alles Mögliche hineinschreiben!”

Paradoxerweise ist es genau diese radikale Offenheit der Wikipedia, die sie prinzipiell offen für Manipulationsversuche macht, auch Teil der Lösung, wie es gelingt, Manipulationsversuchen zu widerstehen. Jede Änderung ist dauerhaft transparent nachvollziehbar, und das gilt auch für die Dokumentation eigener Schwächen und Fehler. So gibt es umfassende Beiträge über systemischen Bias in der Wikipedia, zum Beispiel wegen des großen Männerüberhangs unter den Schreibenden, ebenso wie eine lange Liste an Fehlern und Manipulationsversuchen in der Geschichte der Wikipedia.

Zwang zum Kompromiss

Der zweite Grund für die Robustheit des Wikipedia-Wissens ist, dass Wikipedia im krassen Gegensatz zu den großen kommerziellen Plattformen zum Kompromiss zwingt. Zu jedem Thema gibt es nur einen Artikel. Widersprüchliche Auffassungen müssen ausdiskutiert werden oder als Kontroverse selbst im Artikel abgebildet werden. Wissen wird dadurch als das kenntlich, was es immer schon war: umstritten und vorläufig, sicheres Wissen gibt es nicht. Gleichzeitig ist aber auch dieses Wissen nicht Ergebnis von Abstimmungen, sondern ausverhandelt. Das ist nicht immer schön anzusehen, natürlich gibt es Konflikte, zum Beispiel, ob der Wiener Donauturm architektonisch ein Fernsehturm ist, auch wenn er nie als Fernsehsender fungiert hat. Aber am Ende gibt es keine Alternative zum Kompromiss.

Die Wikipedia ist das beste Beispiel für das enorme Potenzial von offenen, gemeinschaftlich finanzierten, konsens- oder zumindest kompromissorientierten Plattformen. Wikipedia ist gleichzeitig aber mehr als ein – keineswegs perfektes, aber doch – Vorbild in Sachen Transparenz und Deliberation. Aus Perspektive öffentlich-rechtlicher Medien, ist die Wikipedia auch eine Drittplattform, die global strukturiert und gleichzeitig in über 200 Sprachversionen dezentral verankert ist. Ein Ort für die Verbreitung öffentlich-rechtlicher Inhalte jenseits von werbegetriebenen Algorithmen, wo die Audio- und Bewegtbildinhalte öffentlich-rechtlicher Medien die perfekte Ergänzung zu den Texten der Artikel darstellen. Ein Partner im unendlichen Bemühen zu sagen, was ist.

Leonhard Dobusch, Keynote zur Jahrestagung der Otto-Brenner-Stiftung, dokumentiert: netzpolitik.org, 24.11.2023 (online)

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Zitat der Woche
Gut zur Entgiftung des öffentlichen Diskurses wäre es, auch in den Beiträgen jener, die anders denken als man selbst, die klügsten Gedanken zu suchen, nicht die dümmsten. Man läuft natürlich dann Gefahr, am Ende nicht mehr uneingeschränkt Recht, sondern einen Denkprozess in Gang gesetzt zu haben.   Klaus Raab, MDR-Altpapier, 25.05.2020, (online)    
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Auf seinem YouTube-Kanal „Ryan ToysReview“ testet der kleine Amerikaner Ryan seit März 2015 allerhand Spielzeug. Die Beschreibung des erfolgreichen Channels ist simpel: „Rezensionen für Kinderspiele von einem Kind! Folge Ryan dabei, wie er Spielzeug und Kinderspielzeug testet.“ Ryan hat 17 Millionen Abonnenten und verdient 22 Millionen Dollar im Jahr. Berliner Zeitung, 04.12.2018 (online)