Wir müssen auch neu bewerten, was 1989/90 gelaufen ist. Es ist nicht hilfreich, vom „Unrechtsstaat“ zu sprechen. Das spielt den Rechten in die Hände. Ich habe mich damals als Subjekt der Geschichte gefühlt, wir haben die Macht erobert, überall die eigene Leitung gewählt und darüber nachgedacht, wie wir uns auch die Ökonomie aneignen. Dann kommt die Wahl und die Mehrheit wählt Kohl. Kurz darauf gibt es nur noch Täter, Opfer und Mitläufer; das Recht auf Wohnung, das Recht auf Arbeit sind ausgehebelt.
Fehler einzugestehen und den damals herrschenden neoliberalen Zeitgeist zu hinterfragen, könnte eine Diskussion befördern. Über das konkrete Unrecht der DDR kann ich mich mit einem Kritiker des „Unrechtsstaats“ wohl schnell einigen. Aber wenn du alles in die Tonne trittst, dann entsteht nicht nur Frust, wir berauben uns auch etlicher Lösungsvorschläge.
Ingo Schulze, Die Welt, 29.02.2020