Mit Anekdoten zu argumentieren ist so üblich, dass wir vergessen haben, wie heikel es ist. […]
Dafür allerdings müssten künftig zwei Fragen sehr ernst genommen werden. Die erste lautet: Hat sich der jeweilige Fall, der etwas beweisen soll, exakt so zugetragen, wie er kolportiert wird (und wie ist die Quellenlage)? Für jeden Kulturkämpfer dürfte es natürlich eine Horrorvorstellung sein, seine eigene kritische Grundlagenforschung immer mitliefern zu müssen – ein Jäger versucht ja auch nicht, vor der Jagd seine Munition zu entschärfen – aber genau darum geht es. […]
Die zweite Frage ist noch einen Tick verzwickter und lautet: Sind die Fälle, die zu Recht etwa in die Kategorie Cancel Culture fallen […] nun tatsächlich auch ein Zeichen für ein strukturelles Problem?
Nur: Wie viele Einzelfälle braucht es für ein strukturelles Problem? Zwei oder drei? 20 oder 30? 200 oder 300? Je nachdem, ob man sich als konservativ oder progressiv begreift, wird die Zahl stark schwanken (abgesehen davon, dass Unrecht- so es denn bewiesen ist – schlicht Unrecht ist, auch in jedem Einzelfall). Und dann bleibt zusätzlich die Frage, wie viele Merkmale die Beispiele teilen müssen, um als Cancel Culture zu zählen.
Jens-Christian Rabe, sueddeutsche.de, 15.1.2023 (online)